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Hegels Philosophie der Geschichte und Goethes Anschauung des Geschehens der Welt

Publié le 02/12/2021

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Geschichte bedeutet wortgeschichtlich soviel wie Geschehen, historeinmeint im Griechischen »sich nach etwas erkundigen« oder »etwas erforschen« und von dem Erkundeten und Erforschten durch Berichtund Darstellung Kunde geben. Diese beiden Grundbedeutungen vonGeschichte und Historie haben sich durch viele Nebenbedeutungenüberdeckt und vereint.659 Der Sinn von Historie hat sich so weit vonseinem Ursprung entfernt, daß bei den modernen Historikern die Reflexionauf die Geschichte des »Historismus« die Erkundung des Geschehenenbeinahe verdrängt. Die ersten Historiker des Abendlandeshaben nicht die »Entstehung des Historismus« studiert; sie waren Forschungsreisendemit offenen Augen und Ohren und haben uns das, wassie selber gesehen und durch andere erfahren haben, in vorbildlicherWeise erzählt. So konkret und naheliegend dieser ursprüngliche Sinnvon »historia« ist, so entfernt und abstrakt ist das, was man seit Hegelunter der »Weltgeschichte« versteht. Weltgeschichte scheint seitHegel, im Gegensatz zur historia, etwas zu sein, was man gerade nichtselbst gesehen und erfahren, erkundet und erforscht hat. Und dochzeigt uns schon das Geschehen eines jeden Tags, die Geschichte des Alltags,im Kleinen etwas von der Weltgeschichte im Großen. Vor allerUniversalhistorie vermitteln die Tageszeitungen alltäglich das Geschehender Welt, und zumal unsere Zeit kann sich mit dem Bewußtseinschmeicheln, daß sie täglich Weltgeschichte im größten Ausmaßerlebt. - Zugleich mit der Weltgeschichte im Großen und Ganzen, dieüber unser aller Köpfe hinweggeht, gibt es aber auch noch ein anderesGeschehen, das zwar weniger auffällt, aber nicht minder real ist: dasunscheinbare Geschehen im Fortgang des alltäglichen Lebens der Menschenund das immer gleiche im Gang der natürlichen Welt.Ein trivialer Hinweis mag das verdeutlichen: Eine jede Zeitung enthältauf der ersten Seite in großer Aufmachung einen Bericht über dieWeltgeschichte im Großen und Ganzen; einige Seiten weiter findetman kleine, dem Alltag näherliegende Geschichten berichtet, z. B.234Nachrichten aus dem gesellschaftlichen Leben der Stadt. Und schließlichsteht noch in einer unteren Ecke der tägliche Wetterbericht. Wernoch nicht abgestumpft ist durch die Gewohnheit des Zeitungslesens,wird sich die Frage vorlegen müssen: was haben diese drei Sphärendes Lebens: die große Weltgeschichte, das kleine Geschehen des Alltagsund die Natur, deren Gang weder kleinlich noch großspurig ist, miteinanderzu tun? Die einfache Tatsache, daß der Mensch in der Natur,mit der Mitwelt und in der Weltgeschichte zu leben hat, bestimmtauch die philosophische Betrachtung des Geschehens der Welt.Hegel hat seine Vorlesung über die »Philosophie der Geschichte« inden Jahren 1822/3—1830/1 vorgetragen. Die Einleitung dazu erklärtdas Prinzip seiner Betrachtung, welches die stufenweise Entfaltungdes Geistes und mithin der Freiheit ist. Der Geist, welcher als Weltgeistdie Weltgeschichte beherrscht, ist gegenüber der Natur negativ, d. h.der Fortschritt in der Entwicklung des Geistes zur Freiheit ist ein solcherin der Befreiung von der Gebundenheit an die Natur. Die Naturals solche hat daher in Hegels Philosophie der Geschichte keine selbständigeund positive Bedeutung. Sie ist nicht der Grund der Geschichteder Welt, sondern nur ihr geographischer Boden. Das naturgegebeneVerhältnis von Land und Meer, die Gestaltung der Küsten,der Hochländer und Ebenen, der Lauf der Flüsse und die Form derBerge, Regen und Trockenheit, das heiße, kalte und gemäßigte Klima- das alles ist zwar immer von Einfluß auf das geschichtliche Lebender Menschen, aber es nie schlechtweg bestimmend. Dem »Naturtypus« einer bestimmten »Lokalität« entspricht Typus und Charakterdes darin lebenden Volkes, weil sich der Geist überhaupt in Zeit undRaum auseinanderlegt. Diese Entsprechungen zwischen der natürlichenund der geistigen Welt hat Hegel oft bis ins Einzelne ausgeführt.660Im Prinzip galt ihm die Natur aber doch nur als der natürliche»Schauplatz« des geistigen Geschehens der Welt. Für Goethe ist dieNatur der Schlüssel für dessen Verständnis.Auch das alltägliche Leben der Menschen ist für Hegels Idee von derWeltgeschichte ohne substanzielle Bedeutung. Zwar hat ein jedes Individuumeinen Wert, der unabhängig ist vom »Lärm der Weltgeschichte«, und die Interessen und Leidenschaften, welche die »kleinenKreise« des menschlichen Lebens beherrschen, sind dieselben wie aufdem großen Theater der Welt. Aber die Weltgeschichte bewegt sichauf einem höheren Boden als dem des alltäglichen Lebens, dessen moralischeMaßstäbe für das politische Geschehen ungültig sind. Es kannzwar vorkommen, daß ein einzelnes Individuum, welches dem welt-235historischen Fortschritt einer allgemeinen Idee persönlich Widerstandleistet, moralisch höher steht als einer, der ein Verbrechen begeht, dasin der welthistorischen Ordnung der Dinge als Mittel zum Zweckdient; aber bei solchen Konflikten stehen beide Parteien »innerhalbdesselben Kreises«, nämlich des allgemeinen Geschehens, und grundsätzlichist es widersinnig, an welthistorische Taten moralische Ansprüchezu stellen und die Moral gegen die Politik ins Feld zu führen.661 Das absolute Recht des Weltgeistes geht über alle besonderenBerechtigungen hinaus, und innerhalb dieser Bewegung, welche das»Große und Ganze« betrifft, sind die Individuen nur Mittel zumZweck dieses Ganzen.Eigentlich wertvolle Individuen sind darum für Hegel nur die »welthistorischen« Individuen, welche die allgemeinen und großen Endzweckeder Weltgeschichte vollbringen, indem sie die Darsteller eineszur Herrschaft berufenen »Volksgeistes« und einer »Idee« sind. Einsolches Individuum war für Hegel z. B. Napoleon. Als dieser 1806 inJena einrückte, schrieb Hegel in einem Brief: »Den Kaiser — dieseWeltseele - sah ich durch die Stadt zum Recognoscieren hinausreiten;es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuumzu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferd sitzend,über die Welt übergreift und sie beherrscht.« Auch NapoleonsUntergang bestätigt ihm nur seine welthistorische Ansicht. Er schreibt1816 an Niethammer: »Die allgemeineren Weltbegebenheiten ... veranlassenmich meist zu allgemeineren Betrachtungen, die mir das Einzelneund Nähere, so sehr es das Gefühl interessiert, im Gedankenweiterwegrücken. Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeitdas Kommandowort, zu avancieren, gegeben; solchem Kommandowird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, fest geschlossenePhalanx unwiderstehlich, und mit so unmerklicher Bewegung, alsdie Sonne schreitet, vorwärts, durch dick und dünne; unzählbareleichte Truppen gegen und für dasselbe flankieren darum herum, diemeisten wissen gar nicht, um was es sich handelt und kriegen nurStöße durch den Kopf wie von einer unsichtbaren Hand. Alles verweilerischeGeflunkere ... hilft nichts dagegen; es kann diesem Kolossenetwa bis an die Schuhriemen reichen und ein bißchen Schuhwichseoder Kot daran schmieren, aber vermag dieselben nicht zu lösen, vielweniger die Götterschuhe mit den ... elastischen Schwungsohlen, odergar die Siebenmeilenstiefel, wenn er diese anlegt, auszuziehen. Diesicherste (nämlich innerlich und äußerlich) Partie ist wohl, den Avanceriesenfest im Auge zu behalten, so kann man sogar hinstehen, und236zur Erbauung gesamter vielgeschäftiger und eifriger Companschaft,selbst Schuhpech, das den Riesen festhalten soll, mit anschmieren helfen,und zur eigenen Gemütsergötzlichkeit dem ernsthaften GetreibeVorschub leisten.« Von der Reaktion gegen Napoleon gelte das Jakobinerwort:la vérité en la repoussant, on l'embrasse; sie stehe innerhalbderselben Sphäre, gegen welche sie reagiert, und im Grundedrücke sie dem Geschehen, gegen das sie den größten Haß zu habenvermeint, ihr Siegel auf. Was aber das Getue der »persönlichen Ameisen,Flöhe und Wanzen« anlangt, so sei es vom »gütigen Schöpfer«nur zu Spaßen, Sarkasmen und zur Schadenfreude bestimmt, ohne imGuten und Bösen am Wesen etwas zu ändern. - Hegel begreift dieWeltgeschichte pathetisch als eine Geschichte von Volksgeistern, Staatenund welthistorischen Individuen, welche den »Begriff« ihrer Zeitausführen. Auch für Goethe war Napoleon ein »Kompendium derWelt«, aber weil er nicht aus der Idee konstruierte, sondern in derAnschauung lebte, hat er in Napoleon nicht einen bloßen »Geschäftsträgerdes Weltgeistes« gesehen, sondern ein unausdenkbares »Phänomen«, einen »Halb-Gott«, einen ganz außergewöhnlichen, dem»Abgrund« entstiegenen Menschen.Wenn weder die Natur noch das alltägliche Leben der Menschen, sonderndie »Idee« und der »Geist« das Prinzip des Geschehens der Weltist, dann muß man sich fragen: wie begründet Hegel diese »Ideen«-geschichtliche Ansicht der Welt und in welchem Verhältnis steht sie beiihm zur unmittelbaren Erfahrung und Anschauung des wirklichenLebens?Das Grundphänomen des geschichtlichen Lebens ist zunächst die Veränderung,der beständige Wechsel von Völkern, Staaten und Individuen,das Entstehen und Wiedervergehen, das Gedeihen und Verfallen,Begründen und Zerstören. Das Edelste wie das Gemeinste, Untatenwie Heldentaten, nichts ist beständig, und in all diesem Geschehenerkennen wir überall »Unsriges«: menschliches Tun und Leiden,wobei die »Selbstsucht« von einzelnen Menschen wie ganzen Staatenund Reichen »das Gewaltigste« ist. Ungeheure Anstrengungen zerstäubenzu nichts, und aus kleinsten Ereignissen gehen die größten geschichtlichenFolgen hervor. Zeiten einer energischen Freiheit und desblühenden Reichtums wechseln ab mit solchen einer erbärmlichen Hörigkeitund der kläglichen Armut. Betrachtet man dieses Schauspielder menschlichen Leidenschaften und Leiden, der Unvernunft und Gewalttätigkeit,ohne Vorurteil, so läßt sich in der Geschichte der Weltweder eine Idee noch ein vernünftiger Endzweck absehen. Sie ist ein237»verworrener Trümmerhaufen« und eine »Schlachtbank«, auf der dasGlück der Völker, Staaten und Individuen geopfert wird. Geradediese »nächste« Ansicht von der Geschichte ruft aber bei Hegel dieFrage hervor: wozu, zu welchem Endzweck das alles geschehe? DieseFrage glaubt Hegel als christlicher Philosoph beantworten zu können,indem er den christlichen Vorsehungsglauben verweltlicht und die Heilsgeschichtedes Christentums zu einer weltlichen Theodizee verkehrt,für welche der göttliche Geist der Welt immanent und der Staat einirdischer Gott und die Geschichte überhaupt etwas Göttliches ist.Im Gegensatz zur geschichtlichen Empirie und der »gefühlvollen Reflexion« über sie sei es die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, das»Prinzip« zu entdecken, das alle Veränderungen durchdringt. Indemsie das »Auge des Begriffs« mitbringt und mit Vernunft in die Weltsieht, erkennt sie - zwar nicht in allen einzelnen, »zufälligen« Existenzen,wohl aber im »Großen und Ganzen« - den vernünftigen Inhaltder Weltgeschichte, deren Vernunft nach Hegel darin besteht, daßsie ein beständiger »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« ist, daßsich in ihr die Freiheit »zu einer Welt hervorbringt«. Diesen Prozeßhat Hegels Geschichtsphilosophie von der orientalischen Welt über diegriechisch-römische bis zur christlich-germanischen folgerichtig entwickelt.An ihrem Ende steht die Befreiung, welche die FranzösischeRevolution in Europa bewirkt hat.Dieser metaphysische Historismus der Hegelschen Konstruktion ersetztden entschwundenen Vorsehungsglauben der christlichen Religion,und noch heute ist der Historismus als Glaube an den Sinn der Geschichtedie Religion der »Gebildeten«, deren Skepsis zu schwach ist,um jedes Glaubens entbehren zu können; er ist die billigste Art vonGlaubensersatz. Denn was ist billiger als zu glauben, daß in derlangen Zeit der Geschichte alles, was irgend einmal geschah und folgenreichwar, einen Sinn und einen Zweck haben müsse! Auch wergar nichts von Hegel weiß, denkt noch heute in seinem Geist, soferner nur überhaupt seine Bewunderung für die Macht der Geschichteteilt und sich über die Forderungen und Miseren des Alltags »welthistorisch« hinwegsetzt. Nur ein so redlicher Geist wie Burckhardtwar frei von der Faszination, die Hegel auf seine Nachfolger ausgeübthat. Die eigentlichen Schüler Hegels haben aus seiner Metaphysikder Geschichte des Geistes einen absoluten Historismus gemacht, d. h.sie haben von der Absolutheit des sich geschichtlich entfaltenden Geistesbloß das Geschichtliche übrig behalten und aus dem Geschehender Zeit die oberste Macht auch der Philosophie und des Geistes ge-238macht. Die »geschichtliche Idee einer Zeit« oder der »wahrhafte Zeitgeist« wird von Ruge zum obersten Herrn erhoben, der in jedem Fallrecht hat. Denn - so wird aus Hegel gefolgert662 - der »Geist« ist nurwirklich im Weltprozeß, der vom tätigen Menschen vollbracht wird.Der »geschichtliche Geist« oder das »Selbstbewußtsein der Zeit« giltbei den Schülern von Hegel als das Kriterium des Wahren und Falschen,weil nur die Geschichte mit der Zeit offenbart, was die Wahrheitder Zeit ist, indem es Erfolg hat. Wenn aber »Alles in die Geschichtefällt«, dann ist die Geschichte der Welt und des Geistes prinzipiellaussichtsvoll, denn ihr Prinzip ist der Fortschritt in die Zukunfthinaus, die das Wesen der Zeit ist. Hegels rückwärtsgewandter underinnernder Historismus verwandelt sich so bei den Junghegelianernin einen historischen Futurismus; sie wollen nicht nur ein Resultat derGeschichte sein, sondern selber Epoche machen und insofern »historisch« sein.Dieser aktiv gewordene Historismus der Junghegelianer ist zwar infolgeder politischen Reaktion auf die 40er Jahre wieder verebbt, undder Historismus von Haym bis Dilthey hat sich damit begnügt, HegelsMetaphysik der Geschichte des Geistes zu einer »Geistesgeschichte«ohne Metaphysik zu verdünnen. Aber mit der faschistischen Revolution,die aus dem ersten Weltkrieg in Italien und Deutschland hervorging,ist auch der aktivistische Historismus der 40er Jahre zu einemneuen Leben erwacht. Er wurde zunächst von den historisch Gebildetennur negativ, als »Anti-Historismus« empfunden;663 er hat sichaber schon bei Nietzsche als ein Wille zur Zukunft enthüllt, und nurdarum war er so kritisch gegenüber der »historischen« Bildung. Manwill wieder, wie schon ein Jahrhundert zuvor, bewußtermaßen »geschichtlich« sein und nicht nur »antiquarisch« erinnern. Was immerheute von den führenden Staatsmännern getan und verkündet wird,geschieht in dem Willen und dem Bewußtsein a priori »historisch« zusein! Man rechnet im voraus mit Jahrhunderten und Jahrtausenden.Es vergeht keine Woche, wo nicht irgendwer eine »historische« Redehält, d. h. eine Rede, die — im Gegensatz zur Gedenkrede — der Zukunflgedenkt, weil man annimmt, daß erst die Jahrhunderte nach unswürdigen können, was gegenwärtig getan wird. Man rechnet damit,daß die Zukunft dem Tun und Geschehen der Gegenwart ein geschichtlichesRecht und eine historische Rechtfertigung gibt und istmehr denn je davon überzeugt, daß die Weltgeschichte das Weltgerichtist. Auch in diesem pervertierten Gebrauch des Wortes »historisch«klingt noch das Pathos nach, welches ihm Hegel verlieh, und es239macht keinen prinzipiellen Unterschied aus, ob man erinnernd odererwartend, vergangenheitssatt oder zukunftsbegierig, im welthistorischenSinne ausschweifend ist.So extravagant Hegels Konstruktion der Geschichte als eines »Fortschrittsim Bewußtsein der Freiheit« im Vergleich zu ihrer nächsten,empirischen Ansicht ist, so liegt doch der Grund, warum sie so populärwerden konnte, in ihrem eigenen Kern, von dem die christlich-theologischeHülle abstreifbar ist.Der Grundriß der Hegeischen Konstruktion besteht darin, daß sie denGang der Geschichte überhaupt am zeitlichen Fortschritt bemißt, d. h.sie konstruiert von dem letzten Schritt die vorhergehenden als notwendigzu ihm führend zurück. Diese Orientierung an der zeitlichenFolge setzt voraus, daß in der Weltgeschichte nur gilt, was folgenreichist, daß die Aufeinanderfolge der Weltereignisse nach der Vernunft desErfolges zu bewerten ist. Der Erfolg ist aber nicht nur die obersteInstanz von Hegels welthistorischer Ansicht, sondern er ist zugleichein beständiger Maßstab des alltäglichen Lebens, wo man ebenfallsannimmt, daß der Erfolg von etwas dessen höheres Recht über dasErfolglose beweist. Der populäre Kern von Hegels Spekulation liegtalso in der allverbreiteten Überzeugung, daß nur das Erfolgreicheauch das Berechtigte ist. Dieser Glaube hat im 19. Jahrhundert durchDarwins Entwicklungslehre auch an der Natur einen scheinbarenRückhalt bekommen. Unter dem Eindruck der ökonomischen Konkurrenzhat Darwin das Gesetz der »natürlichen Zuchtwahl« entdeckt,wonach die jeweils höheren Tierarten dadurch entstehen sollen,daß im »Kampf ums Dasein« der Tüchtigste die weniger Tüchtigenüberlebt. Hegels Geschichtsphilosophie und Darwins biologische Theorie,664 sie haben beide von dem faktisch Erfolgreichen aus die vermeintlicheNotwendigkeit und das innere Recht seines Hervorgangszurück demonstriert, und ihre Bewunderung der historischen und biologischenMächte hat zum Götzendienst der jeweils siegreichen Machtgeführt.665 Und was andrerseits dem historischen Gedächtnis entschwand,weil es vernichtet wurde oder erfolglos blieb, gilt nach HegelsRezept als eine »unberechtigte Existenz«.666»Der Erfolg«, sagt ein Sprichwort, »krönt den Meister.« — »Der Errolg«, sagt Nietzsche mit eben demselben Recht, »war immer dergrößte Lügner.« 667 Der Erfolg ist in der Tat ein unentbehrlicherMaßstab des menschlichen Lebens, aber er beweist alles und nichts:alles, weil in der Weltgeschichte wie im alltäglichen Leben nur gilt,was Erfolg hat, und nichts, weil selbst der größte Massenerfolg nichts240für den inneren Wert und die wahre »historische Größe« des faktischErfolgten beweist.668 Es ist schon oft das Gemeine und Dumme, dieNiedertracht und der Wahnsinn von größtem Erfolg gewesen, und esist schon sehr viel, wenn eine siegreiche Macht auch den Ruhm und dieEhre der Besiegten verkündet, und nicht nur das scheinbare Recht ihrereigenen, erfolgreichen Macht. Noch nie ist eine geschichtliche Machtohne Gewalttaten, Rechtsbrüche und Verbrechen begründet worden,aber die verletzte Menschheit richtet sich wohl oder übel auf jede Veränderungein, während die Weltgeschichte »auf unsere Kosten großeSchätze sammelt«.669Wer ein Stück Weltgeschichte wirklich erfahren hat und sie nicht nurvom Hörensagen, aus Reden, Büchern und Zeitungen kennt, wird zudem Resultat kommen müssen, daß Hegels Philosophie der Geschichte670eine pseudo-theologische Geschichtskonstruktion am Leitfadender Idee des Fortschritts zur eschatologischen Erfüllung amEnde der Zeiten ist, der die sichtbare Wirklichkeit in keiner Weiseentspricht. Das wahre »Pathos« der Weltgeschichte liegt nicht nur inden klangvollen und imponierenden »Größen«, mit denen sie es zutun hat, sondern auch in dem lautlosen Leiden, welches sie über dieMenschen bringt. Und wenn man etwas an der Weltgeschichte bewundernkann, dann ist es die Kraft, die Ausdauer und Zähigkeit, mit dersich die Menschheit aus allen Einbußen, Zerstörungen und Verwundungenimmer neu wieder herstellt.Die Art und Weise, wie Goethe die Geschichte ansah, ist sehr entferntvon der Hegelschen Konstruktion, aber nicht weil Goethe ein»Dichter« und Hegel ein »Denker« war, sondern weil Goethes reinermenschlicher Sinn der Natur und dem alltäglichen Leben der Menschenebenso offen stand wie dem großen Geschehen der Welt. Er hatdie Weltgeschichte durch seine Stellung am Weimarer Hof aus einersehr viel größeren Nähe als Hegel erfahren. Die welthistorischen Ereignisse,von denen Goethe berührt wurde, waren die KaiserkrönungJosephs II. in Frankfurt (1764), der Siebenjährige Krieg (1756-63)und der Tod Friedrichs des Großen (1786), der Ausbruch der FranzösischenRevolution (1789), der Feldzug der deutschen Truppen inFrankreich (1792), die Schlacht bei Jena und das Ende des HeiligenRömischen Reiches Deutscher Nation (1806), die Fürstenversammlungin Erfurt und die Unterredung mit Napoleon (1808), der Brand vonMoskau (1812), die preußischen Befreiungskriege (1813/14) und NapoleonsUntergang (1815), Metternichs Herrschaft und schließlich diePariser Julirevolution (1830). »Ich habe den großen Vorteil..., daß241ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheitenan die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten,so daß ich vom Siebenjährigen Kriege, sodann von der TrennungAmerikas von England, ferner von der Französischen Revolutionund endlich von der ganzen napoleonischen Zeit bis zum Untergangdes Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeugewar. Hierdurch bin ich zu ganz andern Resultaten und Einsichten gekommen,als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werdenund die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen,die sie nicht verstehen.« 671Diejenige Weltgeschichte, von der Goethe nicht nur berührt wurde,sondern gegen die er sein ganzes Wesen behaupten mußte, war dieFranzösische Revolution, deren Ausbruch ihn um so empfindlichertraf, als er eben aus Italien zurückgekehrt war, um sich in Weimareinzurichten. Wie sehr dieser welthistorische Umsturz alles Bestehendendurch seine fühlbare Einwirkung auf die menschlichen Zustände seinInnerstes aufgewühlt hat, verraten nur wenige Stellen in seinenSchriften und Briefen. »Daß die Französische Revolution auch fürmich eine Revolution war, kannst Du denken. Übrigens studiere ichdie Alten und folge ihrem Beispiel so gut es in Thüringen gehenwill«, heißt es in einem Brief an F. H. Jacobi.672 Er hielt sich in dieserAuflösung an seine Studien »wie an einen Balken im Schiffbruch« undversuchte, dieses »schrecklichste aller Ereignisse« auch dichterisch zubewältigen, mit einer Bemühung, die er »grenzenlos« nannte. »Schau'ich in die vielen Jahre zurück, so seh' ich klar, wie die Anhänglichkeitan diesen unübersehlichen Gegenstand so lange Zeit her mein poetischesVermögen fast unnützerweise aufgezehrt; und doch hat jenerEindruck so tief bei mir gewurzelt, daß ich nicht leugnen kann, wie ichnoch immer an die Fortsetzung der natürlichen Tochter denke, dieseswunderbare Erzeugnis in Gedanken ausbilde, ohne den Mut, mich imeinzelnen der Ausführung zu widmen.« 673Noch 40 Jahre später unterscheidet Goethe bei einem Rückblick aufdas Geleistete sich selbst von der jüngeren Generation nach Maßgabedieses Ereignisses, so entscheidend empfand er jenen welthistorischenEinschnitt in die Gesinnungen und das Tun der Menschen.674 Wohlgelungenist ihm keines der Revolutionsdramen, sondern nur die Beschreibungder »Campagne in Frankreich«.Aus dieser klassischen Darstellung einer Kriegsepisode wird meist einSatz zitiert, der sehr hegelisch klingt. Er bezieht sich auf die Kanonadebei Valmy und heißt: »Von hier und heute geht eine neue Epoche242der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.«Der rechte Sinn dieses Satzes ist aber nur im Zusammenhang mit demdarauf folgenden zu verstehen, der den welthistorischen Akzent aufdas ganze reale und banale Leben des Alltags verschiebt: »In diesenAugenblicken, wo niemand nichts zu essen hatte, reklamierte ich einenBissen Brod von dem heute früh erworbenen, auch war von dem gesternreichlich verspendeten Weine noch der Inhalt eines Branntweinfläschchensübrig geblieben...«675 Und an einer anderen Stelle, woGoethe nochmals auf seinen Ausspruch zurückkommt, fährt er imselben Sinn fort: »Wie aber der Mensch überhaupt ist, besonders aberim Kriege, daß er sich das Unvermeidliche gefallen läßt, und die Intervallezwischen Gefahr, Not und Verdruß mit Vergnügen und Lustbarkeitauszufüllen sucht: so ging es auch hier, die Hautboisten vonThadden spielten Ça ira und den Marseiller Marsch, wobei eineFlasche Champagner nach der andern geleert wurde.«676Diese beiden Bemerkungen sind für die ganze Stimmung, den Tonund Gehalt der Schilderung sehr viel bezeichnender als der vereinzeltewelthistorische Ausspruch. Die überzeugende Wahrheit von GoethesBericht beruht auf der hohen Gerechtigkeit, mit der er Soldaten undZivilisten, Bürgerliche und Adlige, Revolutionäre und Emigranten,Freunde und Feinde, Anführende und Mitmarschierende, Aufregungund Gleichgültigkeit, Anstrengung und Ermüdung, Hunger undDurst — daß er den ganzen Fortgang des wirklichen Lebens der Menscheninmitten der Wirren des Krieges in der ihnen zukommendenMischung zur Darstellung bringt, daß er die Geschichte weder monumentalischheroisiert noch kritisch trivialisiert, sondern wie ein Phänomenvorurteilslos ansieht.Das Vorurteil, zu dem die Weltgeschichte als ein Großes und Ganzesverleitet, besteht darin, daß man sie unter Abstraktion von denmenschlichen Realitäten und den eigenen Bezügen traktiert, als wäre sieeine Welt für sich, ohne Bezug auf die Menschen, die in ihr handelndund leidend sind. Einer solchen philosophischen Abstraktion hat sichGoethe nicht schuldig gemacht. Er konstruiert keine »Volksgeister«als Verkörperung eines absoluten »Prinzips«, sondern er erzählt ganzanschaulich, wie sich in jenem welthistorischen Augenblick der Kanonadevon Valmy bei ihm das Bedürfnis nach Essen regte. Und alswährend Goethes Rückreise von Böhmen das »Heilige Römische ReichDeutscher Nation« in die Brüche ging, gesteht er, daß ihn in diesemAugenblick ein Streit zwischen seinem Diener und Kutscher mehr erhitzthabe als jenes große, aber vage und ferne Geschehnis.243Desgleichen bekennt er in einem Brief an Zelter, daß ihm die »Jeremiaden« der Welt nach Napoleons Sieg in der Schlacht bei Jena nurals »hohle Phrasen« erschienen, obschon sie von großen Übeln veranlaßtwaren. »Wenn jemand sich über das beklagt, was er und seineUmgebung gelitten, was er verloren hat und zu verlieren fürchtet,das hör' ich mit Teilnahme und spreche gern darüber und tröste gern.Wenn aber die Menschen über ein Ganzes jammern, das verloren seinsoll, das denn doch in Deutschland kein Mensch sein Lebtag gesehennoch viel weniger sich darum bekümmert hat, so muß ich meine Ungeduldverbergen, um nicht unhöflich zu werden oder als Egoist zu erscheinen.« 677 Als einige Zeit vor der Schlacht Goethes Freunde begeistertwaren und an nichts als Kriegslieder dachten, frug ihn Wieland,warum er so schweigsam sei. Da erwiderte Goethe, er habe auchein Kriegslied gemacht und rezitierte zum widerwilligen Erstaunender andern sein Lied: Vanitas! Vanitatum Vanitas!678Während Napoleons Feldzug in Rußland schreibt er an C. F. vonReinhard: »Die Welt ist größer und kleiner als man denkt... Wersich bewegt, berührt die Welt, und wer ruht, den berührt sie. Deswegenmüssen wir immer bereit sein, zu berühren oder berührt zu werden.Daß Moskau verbrannt ist, tut mir gar nichts. Die Weltgeschichtewill künftig auch was zu erzählen haben. Dehli ging auch erst nach derEroberung zu Grunde, aber durch die... der Eroberer, Moskau gehtzu Grunde nach der Eroberung, aber durch die ... der Eroberten. Einensolchen Gegensatz durchzuführen würde mir außerordentlichenSpaß machen, wenn ich ein Redner wäre. Wenn wir nun aber auf unsselbst zurückkehren und Sie in einem so ungeheuren, unübersehbarenUnglück Bruder und Schwester und ich auch Freunde vermisse, diemir am Herzen liegen, so fühlen wir denn freilich, in welcher Zeitwir leben und wie hoch ernst wir sein müssen, um nach alter Weiseheiter sein zu können.«679 Die Bemerkung über Moskau mag zynischerscheinen, aber der Zynismus ist meist nur die gröbere Form einerWahrheit, und diese liegt darin, daß die Weltgeschichte jede wahre Bedeutungverliert, wenn wir von ihr nicht auf uns selber und dasNächste zurückkommen.Wo Goethe aber die Weltgeschichte in ihrer eigenen, über den Menschenhinwegschreitenden Macht betrachtet, da erscheint sie ihm nichtals »Vernunft«, sondern wie ein Naturereignis. Er schreibt 1802, gelegentlichder Lektüre eines historisch-politischen Werkes an Schiller: Imganzen, die sich, nach Naturnotwendigkeit, von vielen Höhen und aus vielen244Tälern gegeneinander stürzen und endlich das Übersteigen eines großenFlusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zugrundegeht, wer sie vorgesehen hat so gut, als der sie nicht ahnte. Man siehtin dieser ungeheuren Empirie nichts als Natur und nichts von dem,was wir Philosophen so gern Freiheit nennen möchten. Wir wollen erwarten,ob uns Bonapartes Persönlichkeit noch ferner mit dieser herrlichenund herrschenden Erscheinung erfreuen wird.«680 Aber auchNapoleon sah Goethe nicht als einen Fortschritt zur Freiheit an, sondernals ein Naturphänomen, das nicht nur mit Fürsten und Völkern,sondern mit den Elementen selber im Kampfe steht und alles beseitigt,was seinem großen Plan widersteht: »Er verfolgt jedesmal einenZweck; was ihm in den Weg tritt, wird niedergemacht, aus dem Wegegeräumt, und wenn es sein leiblicher Sohn wäre. Wenn die anderenFürsten und Großen sich gar vielen Abneigungen und Zuneigungenüberlassen, so liebt er alles, was ihm zu seinem Zweck dienen kann,so sehr es auch von seiner individuellsten Gemütsstimmung abweicht,wie ein tüchtiger Konzertmeister, der, wenn jeder Liebhaber sein Instrumenthat, dem er den Vorzug gibt, ohne Liebe wie ohne Haß siealle für sein Orchester zu benutzen weiß. Daher kommt es auch aufeins heraus und bringt schlechterdings dem Individuum keinen Vorteil,ob man von ihm gehaßt oder geliebt wird. Er liebt den Herzogvon Weimar gewiß nicht, ohne daß derselbe sichtlichen Nachteil davonverspürt, und denen, die er liebt, wird ebenso wenig Vorteil darauserwachsen. Er lebt jedesmal in einer Idee, in einem Zweck, in einemPlan, und nur diesem muß man sich in acht nehmen, in den Wegzu treten, weil er in diesem Punkt keine Schonung kennt. - Kurz,Goethe gab zu verstehen, daß Napoleon ungefähr die Welt nach dennämlichen Grundsätzen dirigiere wie er das Theater.«681Er bewunderte an Napoleon den »größten Verstand der Welt« undeinen mehr als menschlichen Willen, der immer klar und entschiedenalles seinem politischen Zweck unterstellt. Napoleon verkörperteihm die zwei großen Mächte, durch die alles geschieht, was in derWelt erfolgreich und dauerhaft ist: »Gewalt und Folge«. Die Folge,als konsequentes Verfolgen des Zwecks, vertritt bei Goethe im Bereichder menschlichen Willkür, was bei Hegel die allgemeine »Vernunft« ist.682 »Folge aber, beharrliche, strenge, kann auch vom Kleinstenangewendet werden und wird selten ihr Ziel verfehlen, da ihrestille Macht im Laufe der Zeit unaufhaltsam wächst. Wo ich nun nichtmit Folge wirken, fortgesetzt Einfluß üben kann, ist es geratener, garnicht wirken zu wollen, indem man außerdem nur den natürlichen245Entwicklungsgang der Dinge, der in sich selbst Heilmittel mit sichführt, stört, ohne für die bessere Richtung Gewähr leisten zu können.«Gewalt jedoch »wird leicht verhaßt, reizt zu Gegenwirkung auf undist überhaupt nur wenigen Begünstigten verliehen«.683 Er wußte, daß»unbedingte Tätigkeit«, ganz gleich welcher Art, »bankrott« machenmuß, während »Nachgiebigkeit bei großem Willen« am Ende überdie bloße Gewalttätigkeit siegt.»Den Frieden kann das Wollen nicht bereiten:Wer Alles will, will sich vor allen mächtig,Indem er siegt, lehrt er die andern streiten;Bedenkend macht er seinen Feind bedächtig;So wachsen Kraft und List nach allen Seiten,Der Weltkreis ruht von Ungeheuern trächtig.Und der Geburten zahlenlose PlageDroht jeden Tag als mit dem jüngsten Tage.« 684Die menschliche Summe und letzte Wahrheit der Weltgeschichte zeigtsich aber ebensosehr wie im Frieden im Krieg, weil der menschlicheZustand als solcher in allem Wechsel derselbe bleibt. In dem aufreizendenGespräch, welches Goethe mit dem Historiker Luden hatte, sagter: »Und wenn Sie nun auch alle Quellen zu klären und zu durchforschenvermöchten: was würden Sie finden? Nichts anderes als einegroße Wahrheit, die längst entdeckt ist, und deren Bestätigung mannicht weit zu suchen braucht; die Wahrheit nämlich, daß es zu allenZeiten und in allen Ländern miserabel gewesen ist. Die Menschen habensich stets geängstigt und geplagt; sie haben sich untereinander gequältund gemartert; sie haben sich und anderen das bißchen Lebensauer gemacht, und die Schönheit der Welt und die Süßigkeit des Daseins,welche die schöne Welt ihnen darbietet, weder zu achten noch zugenießen vermocht. Nur wenigen ist es bequem und erfreulich geworden.Die meisten haben wohl, wenn sie das Leben eine Zeitlangmitgemacht hatten, lieber hinausscheiden als von neuem beginnen mögen.Was ihnen noch etwa einige Anhänglichkeit an das Leben gaboder gibt, das war und ist die Furcht vor dem Sterben. So ist es; so istes gewesen; so wird es wohl auch bleiben. Das ist nun einmal das Losder Menschen. Was brauchen wir weiter Zeugnis?« 685 Als ihm Ludenentgegnete, daß das Leben der einzelnen Menschen doch nicht das geschichtlicheLeben der Völker sei, antwortete ihm Goethe: »Es ist mitden Völkern wie mit den Menschen. Die Völker bestehen ja aus Men-246sehen. Auch sie treten ins Leben wie die Menschen, treibens, etwas länger,in gleich wunderlicher Weise, und sterben gleichfalls entwedereines gewaltsamen Todes, oder eines Todes vor Alter und Gebrechlichkeit.Die Gesamtnot und die Gesamtplage der Menschen ist eben dieNot und die Plage der Völker.« 886Es ist für Goethe äußerst bezeichnend, daß er diese ungewöhnlicheHumanität seines geschichtlichen Blicks, der eher streng als mitleidendwar, nicht dem Studium der Geschichte des Geistes, sondern dem derNatur verdankt, die er in jedem Phänomen als »wahr«, »solid« und»gesetzlich« empfand. Im Umgang mit Pflanzen und Knochen, mitSteinen und Farben erzog er sich zu jener Geduld und Aufmerksamkeit,die nicht konstruiert und die Erkenntnis des "Wesens erzwingt,sondern die Phänomene sich selbst offenbaren läßt und zu Wortebringt. Es ist keine bloße Flucht aus der Politik und dem Weltgeschehen,sondern in Goethes positivem Wesen begründet, wenn er sichwährend der Französischen Revolution mit der Metamorphose derPflanzen, in der Campagne in Frankreich mit den Phänomenen derFarben und während der Julirevolution mit der Morphologie beschäftigte,und daß ihn der naturwissenschaftliche Streit zwischen Cuvierund Geoffroy Saint-Hilaire mehr anging als der politische Umsturz.687In der Natur erkannte er ein Gesetz der Veränderung, wie es im Fortgangder Weltgeschichte nicht aufweisbar ist, und die »Urphänomene«schienen ihm darum eher in der Natur als in der Geschichte erkennbarzu sein. Während Hegel gemäß seiner Herkunft von der christlichenTheologie die Geschichte »geistig« begriff und in der Natur nur das»Anderssein« der Idee sah, hat Goethe in der Natur als solcher Vernunftund Ideen geschaut und von ihr aus einen Zugang auch zumVerständnis des Menschen und der Geschichte gefunden: »Ohne meineBemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich ... die Menschennie kennen gelernt, wie sie sind. In allen anderen Dingen kann mandem reinen Anschauen und Denken, den Irrtümern der Sinne wie desVerstandes, den Charakter-Schwächen und -Stärken nicht so nachkommen,es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend undläßt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur verstehtgar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge,sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.Den Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulänglichen,Wahren und Reinen ergibt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse.«688Als sich der Kanzler Müller verwunderte, daß ein Schüler Hegels von247der Jurisprudenz zur Naturwissenschaft überging, erwiderte ihm Goethelakonisch: »Er hat eben aus dem Studium der Gesetze nichts weiterals die Einsicht in den üblen Zustand der Menschen gewinnen können,und sich darum zur Natur gewendet.«689 Grundsätzlich heißt es einandermal: »Schon fast seit einem Jahrhundert wirken Humanioranicht mehr auf das Gemüt dessen, der sie treibt, und es ist ein rechtesGlück, daß die Natur dazwischen getreten ist, das Innerste an sich gezogenund uns von ihrer Seite den Weg zur Humanität geöffnethat.« 690Auf diesem Weg von der Natur, die individuell und gesetzlich zugleichist, zu dem Reich der menschlichen Willkür hielt Goethe fest anseiner naturwissenschaftlichen Einsicht in das Gesetz der Veränderung:daß sich in allem Lebendigen ein beständiger Formenwechsel vollzieht,eine Metamorphose des Gleichen: »Wenn man das Treiben undTun der Menschen seit Jahrtausenden erblickt, so lassen sich einigeallgemeine Formeln erkennen, die je und immer eine Zauberkraftüber ganze Nationen wie über die einzelnen ausgeübt haben, und dieseFormeln, ewig wiederkehrend, ewig unter tausend bunten Verbrämungendieselben, sind die geheimnisvolle Mitgabe einer höherenMacht ins Leben. Wohl übersetzt sich jeder diese Formeln in die ihmeigentümliche Sprache, paßt sie auf mannigfache Weise seinen beengtenindividuellen Zuständen an und mischt dadurch oft so vielUnlauteres darunter, daß sie kaum mehr in ihrer ursprünglichen Bedeutungzu erkennen sind. Aber diese letztere taucht doch immer unversehenswieder auf, bald in diesem, bald in jenem Volke, und deraufmerksame Forscher setzt sich aus solchen Formeln eine Art Alphabetdes Weltgeistes zusammen.« 691Dieses Alphabet des Weltgeistes hat Goethe nicht als ein »Prinzip«der geistigen Welt statuiert, sondern in den Urphänomenen der natürlichenWelt geschaut und auch an der Weltgeschichte erprobt, soweit es sich an ihr erproben ließ. Denn er wußte, daß Wirkung undGegenwirkung der Menschen, woraus die Weltgeschichte besteht, fürden Begriff etwas »Incommensurables« haben, weil Gesetz und Zufalleinander durchkreuzen, während Hegel den Zufall ausschaltenmußte, um seine philosophisch-theologische Konstruktion behauptenzu können. Die Möglichkeit einer solchen Zurechtlegung sah Goethedarin begründet, daß sich der Historiker gerade der Unsicherheit, dieallem Geschichtlichen einwohnt, zu seinem Vorteil bedient.692 Trotzdes unabsehbaren Gangs alles geschichtlichen Handelns und Treibensist aber auch in ihm eine allgemeine Regel bemerkbar. Die Weltge-248schichte bewegt sich im Großen und Ganzen in spiralig ansteigendenKreisen, wobei das Vergangene wiederkehrt und die Situationensich gleichen: »Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, istbestimmt genug, und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbareimachte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt.Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrtsie doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen.Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten undalle Irrtümer.« 693An Goethes Anschauung des Geschehens der Welt hat sich BurckhardtsBetrachtung der Weltgeschichte gebildet, und darum ist er auch unterallen modernen Historikern der einzige, der sie so sieht, wie sie ist. ImVergleich zu Goethe ist aber selbst Burckhardt ein Hegelianer geblieben,weil er die Natur nicht unmittelbar, sondern in der Vermittlungder Kunst anschaute und die durch Hegel, Ranke und Droysen üblichgewordene Abscheidung der »Natur« vom »Geist« und der Naturkundevon der Geschichtskunde zur Voraussetzung nahm. Die ganzenhistorischen Wissenschaften vom Geiste kranken an diesem Bruch zwischender Natur und dem Geiste,694 der in Descartes seinen Ursprunghat. Goethes erbittertem Kampf gegen Newtons Naturwissenschafl entsprichtdarum seine bis zur Satire gesteigerte Ironie gegenüber der offiziellenGeschichtswissenschafl, die keinem bloßen »Mißvergnügen«entsprang,695 sondern der tief begründeten Überzeugung, daß dieWeltgeschichte, rein historisch betrachtet, das »Absurdeste« ist, was esgibt,696 »ein Gewebe von Unsinn für den höhern Denker«.697 DieArbeit des Historikers ist nicht nur ungewiß, undankbar und gefährlich,698 sondern ein »Mischmasch von Irrtum und Gewalt«, ein »Kehrichtfaßund eine Rumpelkammer. Und höchstens eine Haupt- undStaatsaktion«. Was die Historie überliefert, ist, wie schon jeder Zeitungsbericht,eine Entstellung der Wahrheit, zusammengesetzt ausWunsch und Absicht, Parteisucht und Dummheit, Feigheit und Lüge.Wie wenig vermittelt selbst das beste Geschichtswerk vom wirklichenLeben eines Volkes, und wie viel ist von diesem Wenigen wahr undvon dem Wahren gewiß?699Zur Überwindung dieser historischen Skepsis hat man in unserer Zeitzwei Auswege beschritten, die der Wirkung nach beide zusammengehenund Goethes Einsicht in den Ernst der Problematik der historischenErkenntnis umgehen. Die einen haben von vornherein aufeine Erkenntnis der geschichtlichen Wahrheit verzichtet, indem sie sichdichterisch an den »Heroen« begeistern und das wirkliche Weltge-249schehen zu einem »Mythos« oder einer »Legende« verdichten;700 dieandern haben aus der Not eine Tugend gemacht, indem sie die Subjektivitätihres Standpunktes zum Dogma versteiften und ihren Unwillenzu einer objektiven Erkenntnis in den Willen des Sich-»Entscheidens« und »Wertens« verkehrten. Im Unterschied zu diesen modernenAusflüchten aus den Schwierigkeiten des historischen Wissenshat Goethe darauf bestanden, die physischen und sittlichen Phänomenemöglichst rein, d. h. so wie sie sind, zu erkennen. Infolgedessen hatauch der so viel beanspruchte Satz vom »Umschreiben der Geschichte«bei Goethe einen ganz andern Sinn gehabt, als man mit ihm verbindet.Die Rede vom »Umschreiben« der Geschichte stammt von Goethe, dersie aber seinerseits als schon »irgendwo gesagt« gebraucht. Die betreffendeBriefstelle bezieht sich auf ein historisches Werk von Sartoriusüber die Regierung der Ostgoten in Italien und lautet im Zusammenhang:»Es ist irgendwo gesagt, daß die Weltgeschichte vonZeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, und wann war wohl eineEpoche, die dies so notwendig machte, als die gegenwärtige. Sie habenein treffliches Beispiel gegeben, wie das zu leisten ist. Der Haß derRömer gegen den selbst milden Sieger, die Einbildung auf abgestorbeneVorzüge, der Wunsch eines andern Zustandes, ohne einen bessernim Auge zu haben, Hoffnungen ohne Grund, Unternehmungenauf geratewohl, Verbindungen, von denen kein Heil zu erhoffen, undwie das unselige Gefolge solcher Zeiten nur immer heißen mag, dasalles haben Sie trefflich geschildert und belegen uns, daß das alleswirklich in jenen Zeiten so ergangen.« 701Das Umschreiben der Vergangenheit hat also bei Goethe keineswegsden jetzt gebräuchlich gewordenen Sinn einer Selbstbehauptung derGegenwart, sondern im Gegenteil einer Rechtfertigung der Vergangenheit:es beschreibt alles so, wie es »wirklich« in jenen Zeiten erging.Diesem Anspruch auf historische Objektivität widerspricht nur scheinbarder Umstand, daß Goethes Zustimmung zu des Sartorius Beschreibungeiner längst vergangenen Zeit eine unausgesprochene Beziehungauf die von ihm selbst erlebte enthält, indem Goethe bei denSiegern und Besiegten von damals in seinem 1811 geschriebenen Briefzugleich an die ohnmächtige Reaktion der Deutschen auf NapoleonsHerrschaft denkt. Die Erfahrungen der »gegenwärtigen Epoche«, welchedas Umschreiben so nötig macht, sie beeinträchtigen nicht, sondernermöglichen erst die rechte Erkenntnis auch von dem, was damals geschah,denn was jetzt geschieht, erinnert an das, was schon einmal250war. Die Geschichte wiederholt bestimmte Grundformen menschlicherSchicksale »unter tausend bunten Verbrämungen«, und neu geschriebenwerden muß sie deshalb »von Zeit zu Zeit«, weil nur unter analogenVerhältnissen auch die Einbildungen, Wünsche, Hoffnungen undUnternehmungen vergangener Zeiten so erscheinen, wie sie wirklichgewesen sein werden. Eine polemische Wendung gegen die objektiveErkenntnis der geschichtlichen Wahrheit zugunsten der wertendenSubjektivität lag Goethes gegenständlichem Denken so fern, daß erdie Geschichtsschreibung gerade dort verwarf, wo sie ihm »unredlich«,weil subjektiv zurechtgelegt schien. - Noch deutlicher als in dem Briefan Sartorius hat sich Goethe in der Geschichte der Farbenlehre (amEnde der 3. Abteilung) über den Sinn des Umschreibens geäußert:»Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse,darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben.Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil vielGeschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegebenwerden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunktegeführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neueWeise überschauen und beurteilen läßt. Ebenso ist es in den Wissenschaften.« Besonders das 18. Jahrhundert, das man das »selbstkluge«nennen könne, sei in diesem Sinne zu kontrollieren, weil es den vorhergehendengar mannigfaltiges Unrecht tat! »Zweifelsucht und entscheidendesAbsprechen« haben in dieser Epoche die gleiche Wirkunggehabt: »eine dünkelhafte Selbstgenügsamkeit«, ein Ablehnen allesdessen, was sich nicht sogleich überschauen läßt und einen bedenklichenMangel an Nachsicht gegen »kühnes, mißlungenes Bestreben«. Esist der Mangel an »Gründlichkeit und Billigkeit« in der Beurteilunganderer Menschen und Zeiten, den Goethe der Geschichtsschreibungdes 18. Jahrhunderts zur Last legt, und darum hielt er es für nötig,die Überlieferung dieser Zeit einer Umschreibung zu unterziehen. Esist der »Exorcismus« der Aufklärung, der zugleich mit den »Gespenstern« den »Geist« vertrieb, gegen den sich Goethes Gerechtigkeit auflehnt,aber keineswegs — wie bei den Exorzisten der Umschreibung -die historische und menschliche Gerechtigkeit selbst gegenüber andernMenschen und Zeiten.702Erst durch Nietzsches Frage nach dem Wert der Wahrheit überhauptund dem Nutzen der historischen insbesondere hat der Satz vomUmschreiben der Geschichte jenen aktivistischen Sinn bekommen, derihn zur bequemen Rechtfertigung jeder willkürlichen Zurechtlegungder Vergangenheit macht. Aber auch Nietzsches Satz: »Nur aus der251damit jedoch nicht zufrieden, vielmehr artikuliert sich in jeder Utopieauch ein kritisches und intentionales Verhältnis zur Wirklichkeit.Nicht in der positiven Bestimmung dessen, was sie will, sondern in derNegation dessen, was sie nicht will, konkretisiert sich die utopischeIntention am genauesten.12 Diese bekannte Definition von ArnhelmNeusüss, die Adornos Utopieverständnis verpflichtet ist, legt die Utopieformal auf ihre kritische Funktion fest. Allerdings muß man gleichhinzufügen, daß diese Negation ohne eine utopische Funktion umihren Sinn gebracht würde, im Pessimismus enden könnte. Doch findetdiese Definition ihre Bestätigung in fast allen Sozialutopien seitMorus. Diese beschränken sich keineswegs auf den Entwurf eineridealen Gesellschaftsordnung, sondern kontrastieren sie mit der sozialenMisere der Gegenwart. Die Sozialutopien sind also auch und vorallem als Gegenentwürfe zur Unvernunft der herrschenden Gesellschaftszuständezu lesen, die sie im Idealbild kritisieren, blamierenund verurteilen. >Die Verhältnisse könnten auch anders sein<, lautetdas Motto der Utopie, das durch einen zweiten Satz ergänzt werdenmuß: >Die Verhältnisse müssen verändert werden<. Denn in der Kritikdrückt sich zugleich der Wunsch aus, die Wirklichkeit im Sinne desIdeals zu verändern. Kritische und praktische Intention gehören alsonotwendig zur immanenten Tendenz der Utopie. Daß sich diese, trotzder Großartigkeit mancher Entwürfe, nicht durchsetzten, liegt in ihrerAbstraktheit begründet. Als Ausgeburten des Kopfes fordern sie dieVerwirklichung von Idealen, ohne auf die realen historischen Tendenzenzu achten.Hier setzte die Kritik des utopischen Sozialismus durch Marx undEngels an, der Bloch sich anschließt. Nicht daß sie die genialenGedankenkeime der utopischen Entwürfe von Saint-Simon, Fourierund Owen verachteten, im Gegenteil, sie sahen darin die Prophetenihres Sozialismus, aber sie waren für sie noch unreife Theorien, reinePhantastereien, da sie den gesellschaftlichen Mißständen ihre idealeOrdnung entgegenstellten, die sie durch einen Appell an die Vernunftverwirklichen wollten.13 Die Kritik der utopischen Sozialisten ließ inihrer Schärfe nichts zu wünschen übrig, aber die neue Ordnung ließsich nur durch einen Sprung aus der Geschichte erreichen; was sievernachlässigten, waren die objektiven Bedingungen solcher Umwälzungen.Bei Bloch, der die alten Staatsmärchen wie Engels zu denehrwürdigen Vorläufern des Sozialismus zählt, heißt es dazu: Gemeinsamist den abstrakt-sozialen Utopien die Überholung der vorhandenenGesellschaft durch eine überwiegend im Kopf ausgemalte, auskonstruierte- eben ohne konkreten Bezug der subjektiv-utopischen Intentionauf den Fahrplan, auf die Reife der Bedingungen, auf die objektiv-utopische Tendenz-Latenz, auf reale Möglichkeiten in der Wirklichkeitselber. Erst mit letzterem Bezug entsteht statt abstrakter konkreteUtopie.14 Während die alten Utopien sozialer und anderer Weltverbessererals reine Phantasieprodukte die Wirklichkeit im Medium der Fiktionkritisieren oder den Staat durch Ideen verändern möchten, orien-252Laßt fahren hin das allzu Flüchtige!Ihr sucht bei ihm vergebens Rat;In dem Vergangnen lebt das Tüchtige,Verewigt sich in schöner Tat.Und so gewinnt sich das LebendigeDurch Folg' aus Folge neue Kraft,Denn die Gesinnung, die beständige,Sie macht allein den Menschen dauerhaft.So löst sich jene große FrageNach unserm zweiten Vaterland;Denn das Beständige der ird'schen TageVerbürgt uns ewigen Bestand.In diesen Versen ist der »historische Sinn« enthalten, welchen Goethebesaß. Als er im hohen Alter nach Abschluß der Wanderjahre undvierzig Jahre nach der Französischen Revolution auf das vor sich Gebrachtezurücksah, mußte er aber feststellen, daß die jüngere Generationinfolge des damals erfolgten Umsturzes alles Bestehenden unfähigwar, ein Lebenswerk zu begründen, das in sich selbst Bestandhat und Folge. Er schreibt an Zelter: »Überhaupt muß ich nun versuchen,Tag für Tag, Stunde für Stunde zu sehen, was noch zu leistenist, um das Gegründete rein aufzurichten und praktisch zu befestigen.Es gibt sehr vorzügliche junge Leute, aber die Hansnarren wollen allevon vornen anfangen und unabhängig..., eigenmächtig, uneingreifend,grade vor sich hin ... wirken und dem Unerreichbaren genugtun. Ich sehe diesem Gange seit 1789 zu und weiß, was hätte geschehenkönnen, wenn irgendeiner rein eingegriffen und nicht jeder einpeculium für sich vorbehalten hätte. Mir ziemt jetzt, 1829, über dasVorliegende klar zu werden, es vielleicht auszusprechen, und, wennmir das auch gelingt, wird's doch nicht helfen; denn das Wahre isteinfach und gibt wenig zu tun, das Falsche gibt Gelegenheit, Zeit undKräfte zu zersplittern.« 707Daß das Wahre, soweit es im letzten Jahrhundert im Deutschen Sprachegewann, in Goethe anschaubar ist und nicht in den Neueren, istaber leicht zu verkennen, weil man gemeinhin nicht zu verstehen vermag,daß die Ausnahme vom Gewöhnlichen nicht das durch Übermaßund Mangel Hervorstechende ist, sondern das völlig Normale.In Goethes Weimarer Haus hat sich sein zeitliches Dasein sichtbar undgreifbar verräumlicht. Gehörig entfernt davon steht das Nietzsche-253Archiv, dem eine Prunkhalle angebaut wurde, die dem Jugendstil Zarathustrasin gewisser Weise gemäß ist. Sie sollte der Ausbreitung der»Nietzsche-Bewegungen« dienen, der Pflege des »Zarathustrawesens«und den »irgendwie« damit in Zusammenhang stehenden schöpferischenKräften des Jungen Deutschlands.708 Die Nietzschehalle des DrittenReichs ist Nietzsches »Bayreuth«, durch das Wagner an Nietzschegerächt wird. Das andre, den Jahren nach ältere Deutschland, ist indem bürgerlichen Hause Goethes zu sehen.

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